„Der Duty Free Shop öffnet in fünf Minuten.“ Auf diese Durchsage haben scheinbar alle gewartet. Zumindest die Argentinier. Sie springen auf, als hätte jemand Brennnesseln unter ihre Sitze gelegt. Wie die Ameisen wuseln sie durch die Gänge, ihre Augen in freudiger Erwartung auf das leuchtende Schild mit den vielversprechenden Buchstaben „FREE SHOP“ gerichtet.
„Wir kommen gleich wieder“, rufen meine Freundinnen mir zu. Eine drückt mir noch schnell ihren Matebecher in die Hand und weg sind sie. Allen Chaos-Anscheins zum Trotz stellen sich die Argentinier auch hier brav hintereinander in einer Reihe an. Gedrängelt wird erst im Duty Free Shop selbst. Schließlich will ja jeder etwas von dem Gold abbekommen, das dort offensichtlich verkauft wird.
Meine ungläubigen Augen treffen auf den offenstehenden Mund einer blonden Frau. Touristin aus Deutschland, wie ich gleich erfahren werde. „Was machen die denn alle?“ fragt sie mich erstaunt. Einkaufen. Wie im Rausch. Sie kaufen all die schönen Dinge, die es in Argentinien entweder nicht gibt, oder die sich die meisten aufgrund unverschämter Preise nicht leisten können oder wollen. Im Niemandsland zwischen Argentinien und Uruguay können und wollen sie.
Ich gehe in der Zwischenzeit an Deck und schaue den Wolkenkratzern von Puerto Madero beim Kleiner werden zu. Eine knappe Stunde später steht eine meiner Freundinnen grinsend wie ein Honigkuchenpferd vor mir und wedelt mit einer Dose Heringsfilet, Marke Rügen Fisch. „Das ist aus Deutschland, aus deinem Land!!! Unfassbar! Deswegen hab ich das gekauft.“
Und während sie mir den Inhalt der drei vollgestopften Plastiktüten zeigt, legt die Fähre im Hafen von Colonia del Sacramento an.
Colonia ist ein beliebtes Wochenendziel für Porteños, Weltenbummler, Kulturliebhaber, Fotografen, Ruhesuchende und Visums-Erneuerer. Das Touristenvisum in Argentinien ist 90 Tage gültig. Mit der Aus- und Wiedereinreise (auch am selben Tag) bekommt man weitere 90 Tage. So einfach ist das manchmal in Südamerika. Eine Freundin aus Deutschland machte das jahrein, jahraus.
Die Ein- und Ausreise verläuft meist schnell und unkompliziert. „Führen Sie alkoholische Getränke mit sich?“ – „Nein“, antwortet meine Freundin. Der Grenzbeamte winkt uns durch. Kling Kling Klirr. Die Weinflaschen in unseren Rucksäcken widersprechen lautstark. Aber das interessiert hier keinen.
Colonia del Sacramento wurde 1680 von Portugiesen gegründet und ist die älteste europäische Siedlung des Landes. Aufgrund der strategisch günstigen Lage – direkt gegenüber von Buenos Aires – wurde Colonia nach der Gründung sowohl von der portugiesischen als auch der spanischen Krone für sich beansprucht. Blutige Eroberungskriege waren die Folge.
Die Spanier eroberten die Stadt, die Portugiesen holten sie sich wieder zurück. Heute streiten sich hier höchstens ein paar Straßenhunde um den besten Schattenplatz. Aber die bewegte Vergangenheit ist präsent. Am deutlichsten erkennbar wird sie an der unterschiedlichen Bauweise im historischen Stadtzentrum.
Die Altstadt von Colonia del Sacramento gehört seit Mitte der 1990er Jahre zum UNESCO-Weltkulturerbe und versprüht mit ihren pittoresken Häusern im Kolonialstil einen ganz besonderen Charme. Hier wirkt alles klein und märchenhaft, eine verzauberte Miniaturwelt. Alles, bis auf die Touristenströme. Die sind da, groß, gegenwärtig und bisweilen ernüchternd und erdrückend.
Dennoch, ich bin immer wieder gern in Colonia – ich bin ja selbst Touristin und verstehe jeden Reisenden, der sich für einen Stopp in Colonia entscheidet, nur zu gut. Unter der Woche geht es wesentlich ruhiger zu.
Von der Fähre erreicht man in etwa zehn Minuten Fußweg das alte Stadttor mit der Zugbrücke und damit die Altstadt. Touristen stehen Schlange, um ein Foto an diesem geschichtsträchtigen Ort zu schießen.
In der Altstadt gibt es viel zu sehen. Da aber alles nah beieinander ist, reicht ein Tag gut aus. Wer Zeit hat, sollte sich dennoch überlegen, über Nacht zu bleiben. Wenn die letzte Fähre nach Buenos Aires abgefahren ist, ist Colonia wie ausgestorben. Man kann nun entspannt einen wundervollen Sonnenuntergang über dem Río de la Plata genießen.
Der Stadtkern glänzt mit zahlreichen interessanten Kunstgalerien, Museen, Kirchen, verträumten Gassen, die so emblematische Namen wie Calle de los suspiros (Seufzer-Straße) haben und gemütlichen Straßencafés, die dazu einladen, bei Kaffee und Kuchen stundenlang das Leben zu beobachten.
Der kurze Aufstieg zum Leuchtturm lohnt sich: Oben angekommen, wird man mit einem schönen Rundumblick über die bunten Dächer und die umliegenden Parks und Strände belohnt. An klaren Tagen sieht man die Hochhäuser von Buenos Aires auf der anderen Flussseite.
Wer gerne aktiv unterwegs ist, kann sich ein Fahrrad mieten und zu einem der schönen Flussstrände außerhalb Colonias fahren. Denn im Gegensatz zu Buenos Aires kann man hier wunderbar im Fluss baden.
Und genau das ist unser Ziel: Wir nutzen einen Brückentag und besuchen unsere uruguayischen Sprachschulkolleginnen. Frauenwochenende. Frauengespräche.
Eine von ihnen hat ein Ferienhäuschen direkt am Fluss in einem Dorf mit dem schönen Namen Blancarena bzw. Blanca Arena – weißer Sand. Die Hauptsaison ist bereits zu Ende, sodass es geradezu gespenstisch ruhig zugeht. Die 69 Einwohner lernen wir wahrscheinlich allesamt bei unseren zahlreichen Besuchen im einzigen Tante Emma Laden, den es im Ort gibt, kennen.
Ich liebe die Gelassenheit der Uruguayer. Ihre ruhige, ausgeglichene Art ist Balsam für die Seele. In Uruguay ticken die Uhren in Zeitlupe. Worte bahnen sich im Schneckentempo ihren Weg zum Zuhörer.
Uruguay – das ist die Erfindung der Langsamkeit.
Auch meine energische Porteña-Freundin fährt die kommenden Tage einen Gang, nein hundert Gänge, runter und stimmt täglich ein Loblied auf Uruguay an. Es wundert mich, dass hier noch nicht der Yoga-Bewusst-Leben-Work-Life-Balance-Trend ausgebrochen ist.
Oh Uruguay, hier gibt es so gutes Essen. Das Obst ist frischer als in Argentinien, der zuckersüße Naturjoghurt der Marke Conaprole könnte nicht leckerer sein, es gibt hier die besten Chorizos, die Yerba für den Mate ist ein Gedicht, ja, sogar das uruguayische Wasser schmeckt besser. „Stopp, basta, jetzt reicht´s, Schnauze!“ Meine andere argentinische Freundin fühlt sich gekränkt, verteidigt heftig ihr geliebtes Argentinien.
Und schon sind wir wieder mitten drin in einer hitzigen Diskussion, die wahrscheinlich im ganzen Dorf zu hören ist. „Argentinien ist auch toll, unsere Chorizos sind die besten! Tsss, das Wasser, so ein Quatsch!“
Hände fliegen energisch durch die Luft und zwischen ein paar böse klingenden, aber nicht ganz ernst gemeinten Schimpfwörtern hallt das Echo eines Weinkorkens durch die Río de la Plata Nacht. „Salud, auf das Leben und den argentinischen Wein – den besten, den es auf dieser Erde gibt!“ Unsere uruguayischen Kolleginnen erheben die Gläser und stimmen eine Lobeshymne auf den argentinischen Wein – und überhaupt alles Argentinische – an.
Na, das ist ja gerade nochmal gut gegangen.
Zwei Tage und viele „Oh-Uruguay“ später sind wir wieder auf der Fähre zurück nach Buenos Aires. „Der Duty Free Shop öffnet in fünf Minuten.“ Dieses Mal bin ich es, die aufspringt und sich in die Schlange kaufwütiger Argentinier einreiht, denn so ein deutsches Heringsfilet, das brauche ich auch!
Neugierig geworden?
Anreise: Von Buenos Aires fahren mehrmals täglich Fähren nach Colonia del Sacramento.
Die Tickets kannst du online kaufen: Colonia Express, Buquebus, Seacat.
Die Fahrt von Colonia nach Montevideo dauert ca. drei Stunden mit dem Bus, Abfahrt auch mehrmals täglich.
Geld: 1 Euro = 33,76 uruguayische Pesos (Stand: August 2017)
Geld kann am Fährterminal und im Zentrum von Colonia del Sacramento gewechselt oder am Automaten abgehoben werden. In Uruguay ist das Thema Geld wechseln um einiges unkomplizierter als in Argentinien. In kleinen Strandorten wie Blancarena gibt es keine Geldautomaten. Das Leben in Uruguay ist etwas teurer als in Argentinien.
Beste Reisezeit: Colonia del Sacramento kann das ganze Jahr über bereist werden und in jeder Jahreszeit zeigt sich das Städtchen von einer anderen reizvollen Seite. Mein Lieblingsmonat ist der November. Die lila blühenden Jacaranda Bäume verstärken das Gefühl, Figur in einem Märchen zu sein.
Unterkünfte: In Colonia del Sacramento gibt es zahlreiche Unterkünfte, vom einfachen Hostel über Airbnb zum Luxushotel. In der Hauptsaison und am Wochenende vorreservieren.
Nationalgericht: Wer in Uruguay ist, sollte unbedingt Chivito, eine Spezialität des Landes, probieren: Steak mit Mozzarella, Tomaten, Oliven, Schinken, Ei, Speck, Salat, verschiedenem Gemüse. Chivito wird meist im Brötchen serviert. Als Beilage gibt es Pommes.
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