Hip, zeitlos, alternativ, laut, künstlerisch, authentisch, wandelbar. Das sind nur ein paar der vielen Adjektive, die mir in den Sinn kommen, wenn ich an San Telmo denke. In San Telmo beginnt meine Buenos Aires Erfahrung, das Viertel zieht sich wie ein roter Faden durch meine Beziehung zur Stadt. Hier wohnte ich während des Ausslandssemesters, hier zieht es mich immer wieder hin: in die Cafés, Kneipen und Restaurants. Ziellos durch die schöne Markthalle schlendern und sich von den sommerlichen Farben des Obstes zum Kauf überreden lassen.
San Telmo mit seinen schmalen Gehsteigen und den vorbeibrausenden Bussen. Zahlreiche Streifzüge habe ich durch das Viertel im Süden der Stadt gemacht und entdecke jedes Mal neue Winkel, die mich faszinieren. Ich kann mich nicht sattsehen und nicht sattgehen.
San Telmo ist voller Kitsch und Trödel. Silberbesteck und altes Porzellan, das mich an das Haus in Süditalien denken lässt, in dem ich früher meine Sommerferien verbrachte. Gebrauchte Hüte, Steigbügel, fliegende Zauberfeen und Kobolde, eine verrostete Zapfsäule – wo kommt die wohl her? Ein bekanntes Gesicht: von der Wand blickt mich das zur Unsterblichkeit verdonnerte Konterfei Che Guevaras schweigend an, darüber hängt ein Kronleuchter ohne Glühbirnen.
An jeder zweiten Straßenecke gibt es verstaubte Buchläden, die selbst einem Roman entsprungen zu sein scheinen. So manche Katze fand hier ihr Zuhause und räkelt sich zufrieden über den gesammelten Werken Cortázars.
Dann sind da diese nostalgischen Cafés und versteckten Innenhöfe. Von irgendwo ertönt der Hauch eines Tangos. Ich selbst werde zu Kitsch in San Telmo.
Sonntags wird die Straße Defensa zwischen der Plaza de Mayo und der Avenida San Juan zum Tummelplatz für Suchende und Findende, Käufer und Verkäufer, Flaneure, Musiker und Tänzer, Künstler und Querdenker. Touristen und Einheimische genießen gleichermaßen das bunte Angebot an Ramsch und durchaus Nützlichem, Kunst, Antiquitäten, Tangovorführungen, Livemusik und kulinarischen Köstlichkeiten. Hier findet man schöne Andenken und Souvenirs für die Lieben zuhause.
Die Straße ist sonntags für Verkehrsmittel gesperrt. Es geht aber keineswegs ruhiger zu als sonst; die Menschenmasse übernimmt die Rolle der sonst chaotisch fahrenden Busse. Es ist laut auf der gepflasterten Straße. Babylonisches Sprachengewirr. Ein wunderbarer Mix der Kulturen und Nationalitäten. Einfach stehenbleiben, den Strom vorbeiziehen, auf sich wirken lassen und beobachten.
Ich unterhalte mich mit einer Fotografin, die hier jeden Sonntag ihre Fotografien zum Verkauf anbietet. Fotos, mal in Schwarz Weiß, mal in Farbe, die den Trubel der Stadt und verschlafene Dörfern abbilden. Nebenan versucht ein Tourist, ein Ölgemälde von einem Tango tanzenden Paar vor dem Obelisken günstiger abzustauben. Vergeblich. Hier wird nicht gefeilscht und gehandelt. Der Verkäufer erzürnt, der Tourist zieht schulterzuckend weiter zum nächsten Stand.
Ich kaufe der Künstlerin eine Fotografie ab, die ich mir schön im Zimmer einer Freundin vorstellen kann.
Am Crêpesstand komme ich nicht vorbei, ohne ein paar Pesos liegen zu lassen. Es ist zum Ritual geworden. Zu gut sind die warmen Crêpes mit Dulce de Leche, einer typisch argentinischen (schmerzhaft süßen) karamellisierten Creme, die als Brotaufstrich, zu Bananen und Pfannkuchen oder als Eis gegessen wird und beinahe jeden Kuchen oder Keks ziert. Die Argentinier sind sich einig: Dulce de Leche lässt Nutella blass aussehen, es schmecke tausendmal besser als die berühmte Nuss-Nougat Creme. Ich bin mir da nicht ganz so sicher... Aber die Crêpes sind wirklich köstlich. Genüsslich kauend bleibe ich vor einer Gruppe von Musikern stehen, die modernen Tango und eigene Kreationen zum Besten gibt. Die Passanten lassen sich nicht lange bitten. Während einige im Takt klatschen, tanzen und singen andere zur Musik. Zahlreiche Kameras und Handys sind auf die Musiker gerichtet. Wahrscheinlich hat jeder Reisende, der den Markt, die feria de San Telmo, einmal besucht hat, irgendwo auf seinem PC ein Video und Fotos von den Musikern.
Ich lasse mich weiter treiben und weiß doch schon, wo ich landen werde: In der Pasaje Defensa. Der zweistöckige Innenhof liegt zwischen den Straßen Carlos Calvo und San Juan. Abseits vom Trubel findet man hier tolle Fotomotive, urige Cafés, schicke und traditionelle Textilwaren und natürlich Antiquitäten. Beim Fotografieren verabschiede ich mich wieder einmal in eine andere Welt und bemerke die fortschreitende Zeit erst, als die Fotos deutlich unterbelichtet sind. In der Calle Defensa werden die Flohmarktstände bereits abgebaut.
Langsam legt die Nacht dunkle Schatten über Buenos Aires – und scheint dabei San Telmo zu vergessen. Während sich die Straßen im benachbarten Centro leeren, beginnt für San Telmo der zweite Tag. Im schummrigen Licht der Bars wird angeregt über die großen Europäer, das letzte Fußballspiel und über aktuelle politische Ereignisse diskutiert. Biergläser füllen und leeren sich. Fröhliches Gelächter beschallt die alten Hauswände. Grölende Fußballfans in Boca Trikots feiern den Sieg ihrer heißgeliebten Mannschaft.
Ein einsamer García Lorca sitzt auf einer Bank mit einem Notizbuch und einem Glas Rotwein in der Hand. Er listet mir stolz deutsche Autoren auf, die er gelesen hat. Vor allem das 19. Jahrhundert hat es ihm angetan. Er verfällt ins Schwärmen, dann wirft er wieder nüchtern ein paar schlau klingende Fachbegriffe aus der Literaturtheorie in den Raum. Das Gespräch endet abrupt, als er erfährt, dass ich nicht allein hier bin. Er wendet sich eine Ausrede murmelnd von mir ab. Toilette, neues Bier holen oder sowas in der Art. Später höre ich ihn einer Britin von der englischen Literatur vorschwärmen. „Chamuyero“, denke ich schmunzelnd, „die Nacht ist Chamuyo.“ Chamuyo ist ein Wort aus dem Lunfardo, das einem oft in Buenos Aires begegnet. Ein chamuyero ist eine Person, die ihre Redegewandtheit gekonnt und immer zu ihrem eigenen Vorteil (aus-)nutzt, meist verbunden mit dem Ziel, eine andere Person durch ihr Wissen zu beeindrucken oder zu überzeugen. Ob die Argumente der Wahrheit entsprechen oder moralisch vertretbar sind, ist dem chamuyero egal. Dem Zuhörer auch. Eine Laberbacke, der im Prinzip schon lange niemand mehr glaubt.
Mit jedem zum „salud“ angehobenen Glas vergeht die Zeit schneller. Allmählich leeren sich die Bars.
In den Straßen mischen sich aufdringlich die Gerüche von Marihuana und Urin. An der Straßenecke steht eine Gruppe junger Menschen, die dem Mann mit der Gitarre lauscht. Seine verrauchte Stimme erzählt von der Geschichte der Stadt, von Europa, von der Nacht und den Bordellen.
Letzte Nachtmenschen stehen Schlange am Kiosk, um sich mit einem Pancho, wie der Hot Dog hier genannt wird, für den Heimweg oder den Weg zur Arbeit zu stärken. Bald öffnen die Läden und Supermärkte. Bald gehören die Straßen wieder den Bussen und Autos. Auch ich brauche eine gehörige Mütze Schlaf und döse im Taxi vor mich hin, während um mich herum allmählich die Vögel den Tag ankündigen.
Du willst mehr über San Telmo erfahren? Hier stelle ich Dir Sehenswertes in San Telmo vor und verrate Dir, wo man schön sitzen und essen oder Tango tanzen und Konzerte besuchen kann.
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Linda (Donnerstag, 05 Januar 2017 03:36)
Habe mich sehr gefreut, dich auf deinem Spaziergang durch San telmo begleiten zu dürfen! Schönes in die Ferne träumen.. und vor allem die Portrait Fotos am Ende haben mir sehr gefallen, besondere Menschen, die deine Worte noch lebendiger machen!