Herbst. Notizen aus Chaltén

Intensive Tage in El Chaltén, sprudelnd und ruhig. Tage am Wasser, in den Lieblingsbergen, in den immer bunter werdenden Wäldern, sonnige, herbsthimmelblaue, windstille Tage. Tage mit mir allein. Mein dreiwöchiger, mir selbst verordneter Kururlaub ist zu Ende. Eine Pause von Buenos Aires war ebenso dringend nötig wie Zeit nur mit mir.

 

Die Welt drehte sich wieder einmal zu schnell für mich, Gedanken waren schmerzlich eng übereinandergestapelt, Buenos Aires erdrückte mich. Ich musste raus! So erfüllte ich mir in diesem Jahr gleich mehrere Wünsche auf einmal: den Herbst in Patagonien zu erleben und zu fotografieren, längere Zeit in Chaltén zu sein, ohne abenteuerliche Touren geplant zu haben, Zeit mit mir und für mich ganz allein.

Während meiner Zeit in Chaltén schrieb ich immer wieder auf, was mir durch den Kopf ging. Und ich war ständig mit der Kamera unterwegs. Eine Auswahl von Beidem, Notizen und Fotos, möchte ich hier mit Dir teilen. Es sind lose, unzusammenhängende Notizen – mal auf die Rückseite eines Einkaufsbelegs gekritzelt, mal ins Tagebuch geschrieben, ins Handy oder den Laptop getippt.

 

Verschneite Steppe

Blick aus dem Flugzeugfenster, bonaerensische Pampa, Carmen de Patagones – das Tor zu Patagonien, Halbinsel Valdés, triste Küstenorte entlang der langweiligsten Straße Argentiniens, dann Kurve, Steppe, Steppe, Steppe, Braun und Gelb. Andere gehen in den Urlaub oder auf eine Reise, ich flüchte. Der Kopf ist schwer. Vielleicht kann ich in den nächsten drei Wochen ausprobieren, jemand anderes zu sein, den Schrank öffnen und die Kleider eines anderen anprobieren. Ich versuche der Einsamkeit zu entfliehen. Der Einsamkeit in Buenos Aires, der erstickenden Einsamkeit der vergangenen zehn Wochen, der Einsamkeit, die mir auch liebe Menschen um mich herum nicht nehmen konnten, der Einsamkeit mit mir und anderen.

 

Oh! Da wurde ich doch gerade aus dem Gedankensumpf gerissen: Schnee! Schnee in der Steppe! Weiß bepuderte Hochebene. Der Flieger geht in den Sinkflug, wir nähern uns dieser markanten Welt aus braunen Tälern und weißen Hügeln, und dann bringt das immense Türkisblau des Argentino Sees einen weiteren Gedanken hervor, völlig unvermittelt: Vielleicht muss ich gar nicht den Kleiderschrank eines anderen missbrauchen, vielleicht wird das hier mit mir, dieser Urlaub, völlig gut!

 

Fahrt nach Chaltén

Emotionale Fahrt nach Chaltén. Ich versuche zu rekapitulieren, wie oft ich diese Strecke in meinem Leben schon zurückgelegt habe. Die unvergesslichste Fahrt war mit Sicherheit die im Krankenwagen mit einem todkranken Gast, der mittlerweile ein Freund geworden ist. Die emotionalste die mit einer wunderbaren Gruppe kurz nach dem Tod meiner Mama. Die wichtigste vielleicht die heutige, die mit mir und meiner uneingeschränkten Vorfreude. Denn wenn ich in mich hinein höre, merke ich vor allem das: Zuversicht und die Abwesenheit von Angst. Wie wunderbar!

 

Bekanntes neu entdecken

Schnee und bunter Herbstwald, ich bin entzückt! Knapp zwei Stunden Mate getrunken mit freiem Blick auf den Cerro Torre, purer Genuss. Normalerweise bin ich in Chaltén zum Arbeiten oder um Grenzen auszuweiten, Neues zu entdecken, Abenteuer aufzusaugen, um den Rucksack mit Geschichten zu füllen. Sowas wie die Tour ins schönste Nirgendwo. Jetzt bin ich weniger getrieben, will einfach nur den Herbst atmen und mit der Kamera über bekannte Pfade schlendern. Im milden Herbstsonnenlicht wirkt dennoch alles neu. Werde zur Entdeckerin des Bekannten, komme aus dem Staunen nicht heraus.

 

Herbst in Chaltén – wenn Patagonien flüstert

Es gibt Orte, die einen umarmen. El Chaltén ist für mich einer dieser Orte. Im Sommer kommen die Wanderer in Massen. Im Winter ruht der Ort unter Schnee und Stille. Dazwischen liegt eine kurze Zeit, in der die Farben sprechen – leise, aber eindringlich. Ein seltsames Gefühl begleitet mich in den ersten Tagen, irgendetwas fehlt. Diese vollkommene Stille hat etwas Gespenstisches. Dann fällt es mir auf. Kein W! Patagonien ohne Wind – unfassbar!

Der Herbst ist ein Flüstern. Und wer bleibt, wenn die Besuchermassen fort sind, hört es. Die Stille hat Tiefe. Sie ist kein Vakuum, sondern ein Raum für Gedanken, für Erinnerungen, ein Raum zum Staunen. Die ersten Zeichen sind kaum mehr als ein Zucken. Anfang April beginnt sich das Grün der Südbuchen langsam zu verändern. Nicht schlagartig, nicht effekthascherisch. Es ist ein Übergang in Zeitlupe, ein sanftes Gleiten ins Goldene, ins Rote, ins Kupferfarbene. Die Wälder werden zum Herzschlag der Landschaft.

 

Allein zelten

Hätte ich damals, als ich zum ersten Mal unwissend nach Chaltén kam und mich in diese massive Erscheinung des Monte Fitz Roy schockverliebte, meinem 19-jährigen Ich gesagt, dass ich mehr als 18 Jahre später ganz allein hier zelten würde, ich hätte mir den Vogel gezeigt. Und nun hatte diese Herbstnacht im bunten Wald am See überhaupt nichts Bedrohliches. Alles fühlte sich gut an und ich war froh, dass niemand sonst hier nächtigte. So hatte ich die Sterne für mich ganz allein. Ich war der einzige Mensch auf dieser Welt – und das nur vier Kilometer vom schlafenden Chaltén entfernt. Mondhell, windstill und sternenklar die Nacht. Sie brennt sich ein in Haut und Herz, berührt selbst die Ränder.

 

In der frühen Morgenkälte dampft der Atem, während der erste Lichtstreif über die Gipfel wandert. Es ist nicht mehr das grelle Sommerlicht, das die Konturen überzeichnet, sondern ein weiches, fast sehnsüchtiges Leuchten. Die Sonne scheint langsamer zu steigen, als wolle sie diesen Moment ausdehnen.

 

Padre Roca, Madre Cielo...

Jeden Morgen entscheide ich spontan, worauf ich Lust habe. Und das ist meist nicht das Große, das Unbekannte, das Abenteuer. Beim Aussichtspunkt Condór unterhalte ich mich mit einem jungen Israeli, der mich fragt, was ich hier schon alles gemacht habe. So ziemlich alles, wofür man nicht klettern muss. Denke ich und weiß nicht, was ich darauf antworten soll.

Irgendwas stottere ich vor mich hin. Was habe ich denn gemacht? Dieses Mal? Oder in den letzten 18,5 Jahren? Der Israeli wird nicht wissen, dass es das Refugio Río Diablo oder den Paso del Cuadrado gibt. Dass ich dort war. Dass ich nicht hier bin, um Orte kennenzulernen, zu erwandern. Dass ich ruhigen Gewissens mit einem Buch und Mate am Fluss sitzen kann, ohne das Gefühl zu haben, etwas zu verpassen, obwohl sich Fitz und Torre in ihrer ganzen Majestät zeigen.

 

Der Israeli hat das gemacht, was er machen muss als Erst-Chaltén-Besucher: Laguna de los Tres, Miradores, Loma del Pliegue Tumbado, morgen wandert er zur Laguna Torre. Ich freue mich, weil er sich freut, diese Orte erfahren zu dürfen. „They say that autumn here is the most beautiful in the world.“ Sagt er.

Ich weiß nicht, wer they sind, aber ich gebe ihnen recht.

 

Hörbare Stille

Mein Kopf war so laut, dass ich keine Stille mehr hören konnte. Stille in Buenos Aires ist ohnehin schwierig. Hier – windstilles Chaltén – rauscht die Stille durch meinen Kopf, und ich merke, dass ich ruhig geworden bin, dass ich die Stille wieder hören kann. Wie gut das tut!

 

Mut & Angst

Mut ist Angst plus ein Schritt. Sagt der Südtiroler Bergführer Hanspeter Eisendle in einem Interview. Ich habe oft und vor Vielem Angst. Aber ich stelle mich ihr, fast ständig, mal mehr, mal weniger. Außer wenn‘s um sowas wie Achterbahnfahren geht, aber das braucht ja auch keiner, Auf und Ab hab ich zu Genüge. Ist das dann Mut, dieses Sich-Stellen?

 

Da ist die Angst vor dem Fallen ins Nichts, vor dem Sturz, vor dem Gehen im Ausgesetztsein, vor dem Abgrund, den ich nicht lesen kann. Dazu gesellt sich (und das ist das schlimmste) die Angst vor der Angst, vor zitternden Knien, sich überschlagenden Gedanken, Schnappatmung und der Lähmung, die letzten Ende dazu führt, dass ich die Kontrolle verliere und Fehler mache. Über meine Angst in den Bergen habe ich am Ende dieses Artikels berichtet.

Seit Jahren stelle ich mich ihr mit großer Freude und ebenso viel Furcht. Dadurch habe ich den sicheren Bereich bereits deutlich ausgedehnt, bin immer wieder als „Verlierer“ und deutlich häufiger als „Gewinner“ rausgekommen.

 

Nun wollte ich mich der Angst vor einem Berg hier in der Gegend stellen, von dem aus man eine wunderbare Sicht genießen kann. Aber der Weg zu diesem Ausblick ist lang, steinig, schneeig, ausgesetzt, konditionell anstrengend und technisch nicht ganz leicht. Für mich zumindest.

 

Ein befreundeter Bergführer aus Chaltén bot mir an, mich zu begleiten, mir an den kritischen Stellen zur Seite zu stehen, mich zu sichern, mir zu zeigen, wo ich wie hintreten soll. „Ok, das machen wir dann im April“ – April klang immer so herrlich weit weg.

Und dann war dieser Monat doch da, und mit ihm natürlich die Angst. Hin und her, ja, nein, ok wir machen das, nein, ich schaff das nicht. Dann doch ein klares Ja.

Wir zelten am Fuße des Fitz. Über Nacht schlägt das Wetter um. Dichter Nebelsiff verschluckt das kleine gelbe Zelt im steinigen Terrain. Nach dem Frühstück haben wir null Sicht. Und werden vom Wetter zur Umkehr gezwungen. Ich ringe mit mir und bin wütend, weil ich somit nicht rausfinden werde, ob ich es gekonnt hätte.

 

Bauchgefühl

Gleichzeitig folgende Gedanken: Schwierig, sich aufs Bauchgefühl zu verlassen. Wie wichtig ist mir der Berg? Will ich wirklich da hoch? Oder mach ich das, um zu sagen, dass ich oben war, um mir oder irgendjemand irgendwas zu beweisen?

Mein Bauch schweigt beharrlich, mein Kopf kann sich beides vorstellen. Die Sicht, ja, die hätte ich gern. Aber habe ich Lust erst über diese riesigen Steinblöcke zu wandern, die die Füße so ermüden, dann das Schneefeld zu queren und dann mit der ausgesetzten Kraxelei zu beginnen, von der ich nicht weiß, wie‘s mir dabei gehen wird?

Oh Kopf, mach wieder Pause, genieß den Wald, der so herrlich herbstlich duftet! Denn das ist Jetzt und Hier. Kann mir nicht der Fuß wehtun, dann habe ich eine Ausrede? Natürlich tut mir kurz danach der Fuß weh.

GR11-Lektion: Kopf hat keine Lust mehr und meldet das dem Körper auf seine ganz eigene wundersame Weise. Körper reagiert mit Schmerzen. Ich muss dem Körper klarmachen, dass die Schmerzen ein Kopfgespenst sind.

 

Wenn ich mir nun Schmerzen wünsche, um eine Ausrede zu haben, dann heißt das ja, dass ich den Berg nicht besteigen will. Ok. Ich will nicht. Die nächsten Minuten ruhiges Gehen. Dann der Blick zum Berg. Oh, aber schön ist er schon. Es wäre doch sicherlich grandios, dort oben zu stehen.

Wie ehrlich kann ich mit mir selbst sein?

Oft vor einer großen Tour habe ich ja auch nicht so viel Lust darauf und wenn ich das überwinde und es trotzdem mache, bin ich danach der glücklichste Mensch der Welt. Also, was ist jetzt der Fall? Bauch, kannst du nicht einfach mal mit mir sprechen?

Alle erzählen immer davon, wie wunderbar sie auf ihr Bauchgefühl vertrauen können. Mein Bauch meldet sich meist, wenn ich Hunger oder Angst habe.

Oder höre ich ihn nur nicht? Wenn das so ist, wie finde ich dann seine Stimme?

 

Kein Aber

Ein paar Tage später, als sich meine Foto-Wanderungen gerade mal wieder so unbeschreiblich grandios anfühlen, schließe ich Frieden mit dem Wetter, dem Berg und werde endlich wieder etwas milder mit mir. Denn wenn Mut Angst plus ein Schritt ist, habe ich diesen Schritt ja bereits getan. Tatsächlicher Bergerfolg hin oder her. Wie gut es tut, nicht immer so streng mit sich selbst zu sein! Wie gut es sich anfühlt, mutig zu sein! Selbst mein Kopf kann nicht immer nur voll von Aber sein!

 

Komfortzone, getrieben & Sein

Komfortzone. Auch so ein Modewort, das an jeder Ecke auf offene Ohren lauert. Ja, alle müssen die heimelige Komfortzone verlassen, das ist cool, das ist en vogue. Vom Verlassen der Komfortzone bin auch ich angetan, denn wenn man wieder zurückkommt ins warme Nest, weiß man die so genannten „kleinen Dinge“ so viel mehr zu schätzen. Und dieses Gefühl macht ebenso süchtig wie sich neue Ausflüge außerhalb der Komfortzone auszudenken. Meist folgen diese Exkursionen dann dem Motto „höher, schneller, weiter“.

Meine planlose Zeit in Chaltén lehrt mich, dass auch genau das Gegenteil ein Ausbrechen aus der Komfortzone sein kann. Als Fotografin wandere ich zwar auch, aber eben weniger und langsamer. Viele Stunden am Tag stehe ich einfach nur da (an einem wunderbaren Ort selbstverständlich oder auch mal im gletscherkalten Wasser) und warte. Auf das richtige Licht, die Wolken, ein Tier oder sonstwas. Das fiel mir am Anfang schwer, weil ich dachte, ich muss doch weiter und soundsoviel Kilometer und Höhenmeter schaffen.

Nach und nach hat sich das „getrieben“ vom Getriebensein gelöst. Zurück bleibt schlicht und doch nicht immer so simpel das „Sein“.

Die so genannte Komfortzone ist ein individuelles Konstrukt. Deswegen klettere ich an manchen Tagen auch einfach nur auf einen Baum und denke mir Geschichten oder Möglichkeiten aus. Sonst nichts. Weil ich sonst nichts machen muss.

Wer sich in Patagonien beeilt, verliert seine Zeit (patagonisches Sprichwort).

 

Tage in Chaltén

Chaltén. Es sind Tage, an denen es Kaviar zum Frühstück gibt. Vom Lachs, den ich zusammen mit dem Nachbarn geangelt hab. Es sind Tage, an denen ich ziellos durch die Gegend streune und plötzlich ein Kondor vor mir sitzt. Wir erschrecken beide, starren uns an. Riesiges Tier. Ich setze mich, wir starren uns weiter an. Es sind Tage, an denen die Berge ihren Protagonismus einbüßen. Weil die Farbexplosion in den Wäldern jeden Tag intensiver wird. Weil ich die Zeit habe, jeden knorrigen Nothofagus-Baum zu bewundern. Es sind Tage, an denen sich die Berge, die Büsche, die Sterne und die Sonne im spiegelglatten See verdoppeln.

 

Es ist die Zeit, in der das Licht weicher wird und die Schatten länger. Die Tage sind kurz, die Abende kühl. Das Dorf scheint langsamer zu atmen. Wer sich jetzt in eines der wenigen offenen Lokale setzt, findet nicht die sommerliche Unruhe, sondern Wärme, Gespräche, manchmal Musik. Der Herbst in El Chaltén ist eine Einladung zur Rückkehr, zur Erinnerung, ja vielleicht sogar zur Zärtlichkeit gegenüber Vergangenem, den eigenen Gedanken und sich selbst.

 

Gedanken-Diät

Patagonien hat die Gedanken auf Diät gesetzt, mein Kopf fühlt sich bereits nach einer Woche schlendern durch die Natur zehn Kilo leichter, mindestens. Gedanken kommen und gehen, sind leicht wie Federn. Ich spaziere durch diese unwirkliche Farbigkeit und singe. Oder schweige und lausche den Spechten.

 

Touristen sind Zitronen

„Hier passiert nie was, und alle Menschen sind schlecht!“ Mein Nachbar S. wird nicht müde sich selbst leid zu tun, weil er die meiste Zeit des Jahres in Chaltén lebt, wo es für ihn, der sich lieber an einem fröhlichen Strand in Brasilien wähnt, nichts Herzerwärmendes gibt. Sein einziger Begleiter ist sein Hund. Freunde hat er keine, in Buenos Aires, ja, aber nicht hier. Denn –wiederholt er noch einmal – hier sind alle Menschen schlecht. Alle beobachten dich, folgen deinen Taten auf Schritt und Tritt, reden hinter dem Rücken über dich, alle sind falsch. Außerdem sterbe er vor Langeweile. Warum er denn dann hier lebe, frage ich. „Weil man hier viel Geld machen kann während der Saison!“ Na klar, Geld! S. vermietet, wie die meisten hier, Appartements. Reisende werden in Chaltén ausgepresst wie vollreife Zitronen.

 

Reisende, das sind die mit dem dicken Geldbeutel.

Bei Eintrittsgeldern gibt es eine Mehrklassengesellschaft: 1. Ausländer (haben den dicksten Geldbeutel und müssen grundsätzlich dreimal so viel zahlen wie Argentinier), 2. Argentinier, 3. Bewohner der Provinz Santa Cruz, 4. Chalteños. Rabatt gibt es für Kinder (egal ob Argentinier oder nicht!), Studierende, Rentner und Veteranen des Malvinas-Kriegs. Denn ja, Berge sind kostenpflichtig in Chaltén! (Begründung der Nationalparkverwaltung: Wanderwege instand halten, Cafés (mit überteuerten Preisen, natürlich!) am Einstieg zu den Bergen errichten – klar, das braucht‘s!) Da es alternative Wanderwege gibt, wo man die Eintrittsgebühr umgehen kann (was natürlich alle machen, die diese kennen), überlegt sich die Nationalparkverwaltung, künftig am Ortseingang ein Kassenhäuschen aufzubauen. So darf jeder die Kreditkarte zücken, um ins Dorf zu gelangen.

 

Es wird fleißig gebaut in Chaltén. Neue (teure, natürlich!) Unterkünfte müssen her, damit die Besuchermassen irgendwo nächtigen können. Auf dem Bau arbeiten hauptsächlich Paraguayer und Formoseños (argentinische Provinz an der Grenze zu Paraguay). 50 USD für ein Etagenbett im 6er Zimmer – Normalzustand in den Sommermonaten in Chaltén. Diejenigen, die keine Hotels oder Restaurants besitzen, arbeiten als Guides. Und bringen Touristen für schlappe 300 USD zur Laguna de los Tres, dem Insta-Hotspot am Fuße des Influencers, dem Berg Fitz Roy. Plus Eintrittsgebühr. Am Abend kann man sich einen schäbigen Burger für 20 USD gönnen oder 50 USD in den altehrwürdigen Restaurants liegen lassen.

 

In einem zumindest scheinen sich alle einig zu sein: Touristen sind Zitronen. Und jeder Chalteño besitzt eine Zitronenpresse, mindestens.

 

Das am Rande. Denn es macht mich teilweise sehr wütend. Und legt einen Schatten über diesen Herzensort.

 

Weitwandern

Ich habe das Gefühl, in der kurzen Zeit hier bereits mehr von dem gefunden zu haben, was ich auf dem GR 11 gesucht hatte. Weil einfach nichts muss, rein gar nichts. Oder die Erfahrung der Pyrenäenwanderung vom Atlantik ans Mittelmeer setzt sich jetzt erst langsam, da unterbrochen durch die Trauer um meine verstorbene Mama. Während der Fernwanderung denkt man ja nicht über die großen Fragen nach, so wie ich mir das vorgestellt hatte. Währenddessen denkt man nur an die nächsten Schritte: Hält das Wetter? Wo gibt’s Wasser? Wo schlafen wir? Ich hab Hunger.

Was diese weiten Wege mit einem machen, zeichnet sich erst in einem diffusen Danach ab.

 

Dankbarkeit & Abschied

Exodus aus Chaltén. Ende April bleibt dieser Ort beinahe sich selbst überlassen, Guides, Hotel- und Restaurantmitarbeiter, Touristen, Bauarbeiter – alle verlassen allmählich Chaltén. Fensterläden sind verschlossen, das Dorf wiegt sich selbst in den Winterschlaf.

 

Es ist schwer, Abschied zu nehmen von einem Ort, der gerade im Vergehen vor Lebendigkeit strotzt. Vielleicht ist das der tiefste Eindruck, den der Herbst hier hinterlässt: dass Schönheit nichts Festes ist, nichts Greifbares, sondern ein Moment. Flüchtig. Und dass gerade das, was vergeht, in uns bleibt.

 

Vielleicht ist es das, was El Chaltén im Herbst so besonders macht: dass es nicht mehr lockt, sondern berührt. Nicht ruft, sondern wartet. Und dass man am Ende nicht sagen kann, was man gesehen – sondern nur, was man gespürt hat.

 

Die Bäume in den höheren Lagen lassen bereits die roten Blätter fallen. Wie herrlich grandios es ist, diesem beinahe lautlosen Geräusch zu lauschen, wenn sie sich von den Ästen verabschieden, um nach einem kurzen Tanz auf dem weichen Boden zur Ruhe zu kommen.

 

Die Tage in Chaltén mit ihrer glanzvollen Stille haben Weite in meinen Kopf gebracht, Weite zwischen einzelne Gedanken gesetzt.

Dankbar, sehr dankbar und tief zufrieden, blicke ich – wie immer – noch einmal zurück. Fitz & co grüßen vom wolkenfreien Himmel, während sich der Bus durch die Steppe auf den Weg nach El Calafate macht. Wir sehen uns im Frühling, Chaltén!

 

Letzte Tage in El Calafate

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