„Abstand bitte!“ In einem Land, in dem man sich zur Begrüßung, zur Verabschiedung und manchmal auch zwischendrin ein Küsschen gibt, und in dem die bombilla – der Mate „Strohhalm“ – geteilt wird, ist das mit diesem Abstand gar nicht so leicht.
Funktioniert aber dennoch überraschend gut.
Während sich das Leben in Deutschland langsam wieder in Richtung Normalität bewegt, wurde die Ausgangssperre in Argentinien bis 25. Mai (aktuell bis 8. Juni) verlängert. Das Leben spielt sich virtuell und hinter Wohnungstüren ab.
Bienvenidos in Balkonien!
Weißt du noch, als unsere Wohnungen blitzblank waren?
Weißt du noch, als wir gemeinsam ein Glas Malbec tranken und währenddessen beide ins Smartphone starrten, um uns „nah“ zu sein?
Weißt du noch, wie froh wir waren, als der Supermarktverkäufer „1300 Pesos“ sagte, weil es einer der wenigen direkten Dialoge war, die wir täglich führten?
Weißt du noch, als das größte Highlight unseres Lebens aus einem abendlichen Applaus um 21 Uhr bestand, weil wir dort andere Menschen sahen?
Weißt du noch, als uns die Tränen in die Augen schossen, weil wir nach Wochen die Sonne und den Regen im Gesicht spürten, und es das schönste der Welt war?
Weißt du noch, als in den Straßen von Buenos Aires die Stille in den Ohren rauschte?
Weißt du noch, als wir sagten: #ichbleibezuhause und davon träumten, genau das nicht zu müssen?
Weißt du noch, als all unsere geplanten Reisen zu zerplatzten Balkonien-Seifenblasen wurden?
Weißt du noch, als der Herbst sich hinter Glas abspielte?
Vielleicht werfen wir uns in ein paar Monaten beim asado auf deiner Terrasse solche „Weißt-du-nochs“ zu.
Das wäre schön.
Seit über sieben Wochen ist der Himmel blau und klar in Buenos Aires. Auf unseren Balkonen können wir nachts Sterne beobachten, in aller Stille, keine Flugzeuge, keine Musik, keine ausgelassenen Samstagnacht-Partygänger.
Wir schaffen uns Routinen, um nicht im Schlafanzug zu leben. Spielen uns selbst Normalität vor.
Sonst würden wir das wahrscheinlich nicht aushalten.
Zu diesen Routinen gehört auch zu wissen, welcher Tag heute ist.
Heute ist Montag, der 11. Mai.
Der Morgen: Augen auf, es hat sich nichts verändert.
Erster Gedanke: Was könnte ich heute kaufen, um meinen Drang nach Frischluft zu rechtfertigen?
Aufstehen, in den Tag hineinfühlen.
Wird er gut?
Oder plätschern die Stunden vor sich hin und am Abend fragt man sich, wann das Leben zurückkommt?
An manchen Tagen klappt das mit dem Aufstehen und (Froh-) Sinn vortäuschen nicht so gut.
Dann starren wir die weiße Wand an und fühlen uns genauso, fahl und leer.
Das schönste am Tag: das Einkaufen. Ein Event, auf das man sich freut.
Es bedeutet, fremde Gesichter zu sehen, und nicht immer nur das eigene im Spiegel, das des Partners oder des Haustiers.
Mit Taschen und Tüten bepackte Menschen machen jeden Tag das gleiche. Man hat sich mittlerweile an ihren Anblick gewöhnt.
Einige wählen das Modell „Raubüberfall“, andere bevorzugen „Raumfahrer“ für ihren täglichen Gang zum Supermarkt.
Und selbst gehört man auch dazu.
Konsum als Ausrede, um einen Fuß vor die Tür setzen zu dürfen.
Das Kind, sagt man mir, hat seit sieben Wochen die Wohnung nicht mehr verlassen.
Das kann ja nicht gesund sein, antworte ich, und empfinde Mitleid mit dem Kind, das seinen Körper, wann immer es kann, dreht und verbiegt, um vom Fenster aus einen Blick auf den blauen Himmel zu erhaschen.
Erst da wird mir bewusst, dass ich seit Wochen keine Kinder mehr gesehen habe.
Ein Elternteil geht einkaufen. Der andere bleibt mit den Kindern zuhause.
Den Großeltern des Kindes geht es ganz ähnlich. Ihre Kinder erledigen die Einkäufe, bringen den Müll runter. Sie sind über 70 und gehen nicht raus. Auch nicht zum Einkaufen. Von ihrem Wohnzimmerfenster blicken sie auf eine graue Häuserwand. In die Küche dringt kein Tageslicht.
Wie sie das nur aushalten?
Der Herbst spielt sich in diesem Jahr hinter der Fensterscheibe ab.
Vom Küchenfenster aus sehe ich einen Baum.
Mein Naturraum.
Seine Blätter werden gelb. Dann fegt ein Herbststurm über die Dächer hinweg und rasiert den Baum kahl.
Wir machen die Heizung an.
Die vom Regen überschwemmten Straßen zeigen, dass sich der Herbst bald verabschieden wird.
Ich habe ihn zweimal gespürt.
Das erste Mal nach drei Wochen des Eingesperrt Seins.
Mit einem „Klack“ fällt die Tür ins Schloss und meine Füße betreten Freiheit (die Polizisten auf der gegenüberliegenden Straßenseite bezeugen das Gegenteil, aber ich schenke ihnen keine Beachtung).
Mein Alibi: die Einkaufstasche in meiner Hand.
Offiziell mache ich mich auf die Suche nach Basilikum, der gerade schwer zu bekommen ist.
Tatsächlich aber befindet sich in der Einkaufstasche die Kamera. Um ein paar Fotos von den leeren Straßen zu machen.
Aber das brauchen die Polizisten nicht zu wissen.
Die warme Herbstsonne kitzelt auf meiner Haut, wärmt den Nacken.
Ich kann es nicht verhindern, ein paar Tränen der Freude kullern über die Wangen.
Das zweite Mal nach fünf Wochen des Eingesperrt Seins.
Es regnet in Strömen, weicher Herbstregen. Innerhalb weniger Minuten ist meine Haut aufgeweicht.
Seit über einem Monat habe ich mich nicht mehr so lebendig gefühlt.
Der Frau, die mir entgegenkommt, scheint es genauso zu gehen. Wir tauschen ein paar unscheinbare Worte aus, die die Seele streicheln.
Endlich einmal wieder mit jemandem von Angesicht zu Angesicht sprechen, und das im Regen – vielleicht das schönste Quarantäne-Geschenk. Alles, was sonst im bunten Alltagstreiben untergeht, wird riesig groß in Zeiten der sozialen Isolation.
Zu diesen kleinen Dingen, die auf einmal wichtig sind, gehören auch die unbekannten Nachbarn, die zu weit entfernt wohnen, als dass man sich mit ihnen unterhalten könnte, aber doch so nah, dass sie ein Teil der eigenen Isolation werden.
Was machen sie den ganzen Tag?
Pflanzen umtopfen, Mate in der Sonne trinken, Fenster putzen - ab und an gibt es eine Verfolgungsjagd auf den Dächern.
Besser als jeder Krimi diese Ausgangssperre!
Das Fernglas des Nachbarn ist auf meinen Balkon gerichtet, meine Kamera auf seinen.
Man winkt sich zu und glaubt, ein Lächeln erkennen zu können, drückt auf den Auslöser.
Wir sind Beobachter und Beobachtete.
7 Wochen Ausgangssperre in Argentinien – wie geht es weiter?
Das war noch nicht alles. Aus dem Fensterherbst wird ein Fensterwinter werden.
Die Ausgangssperre wurde bis Ende Mai verlängert, mit ein paar Lockerungen.
Flüge sind Stand heute bis 1.9.2020 untersagt. Die Airlines dürfen bis dahin keine Tickets verkaufen.
Dann ist da noch die andere Epidemie in Argentinien, Dengue. Darüber wird zurzeit aber nicht gesprochen.
Sieben bekannte Buchstaben wühlen die Gedanken der Menschen auf: D-E-F-A-U-L-T.
Bisher ist keine Einigung bezüglich des Umschuldungsvorschlags in Sicht.
Die Frist läuft am 22. Mai ab.
Keine Einigung – Staatspleite.
Tick tack, die Zeit rennt.
In den Provinzen Catamarca und Formosa gibt es bisher keine Corona-Fälle, in den Marginalsiedlungen der größeren Städte hingegen fühlt sich das Virus inzwischen pudelwohl.
Für Städte mit weniger als 500.000 Einwohnern, die nicht zum Einzugsgebiet einer Großstadt gehören, gelten Sonderregelungen.
Wer, was, wie, wo, wann darf oder nicht darf – das variiert von Provinz zu Provinz und ist wie in Deutschland ein ziemliches Chaos.
Für Buenos Aires sind folgende Lockerungen angedacht:
Am 12. Mai dürfen einige Läden unter bestimmten Auflagen öffnen.
Ab dem Wochenende dürfen Kinder und Jugendliche unter 16 Jahren mit ihren Eltern spazieren gehen, aber nicht nach Lust und Laune. Grundsätzlich sind diese Spaziergänge nur am Wochenende erlaubt, in einem Umkreis von 500 Metern um die Wohnung, für eine Stunde.
Alle, deren Ausweis auf einer geraden Zahl endet, dürfen an geraden Tagen raus, ungerade an ungeraden.
Das Kind wird nach acht Wochen wieder Frischluft – unter der Maske – schnappen.
Für alle anderen bleibt alles wie gehabt, und das bedeutet: obligatorische soziale Isolation.
Vielleicht kann ich mir irgendwo ein Kind leihen?
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Bis du und ich uns wieder mit Küsschen begrüßen und gemeinsam Mate trinken dürfen, wird es noch lange dauern.
Ich hätte nicht gedacht, dass mir das so fehlen würde.
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Frie (Montag, 11 Mai 2020 13:35)
Hi Simone,
Das ist unglaublich. Diese Auflagen sind knallhart. So wie Du alles beschreibst ist wie in einem spannenden Buch, aber dass dies die Wirklichkeit ist --in so einer Metropole --. Da sollten wir dankbar sein, dass wir immer noch ein Stück Freiheit haben und so viele Menschen es nicht zu schätzen wissen.
Machs gut liebe Simone und in ein paar Monaten hoffe ich, dass du die Spätsommerluft vom Schwabenländle wieder einatmen darfst .
Argentinien24/7 (Montag, 11 Mai 2020 15:43)
Liebe Frie,
wir werden sehen, wie es nach dem 25. Mai weitergeht. Hoffentlich kann sich das Leben bald wieder ein bisschen mehr nach Draußen verlagern... Und ja, hoffentlich klappt es in ein paar Monaten mit einem Besuch im Ländle. :-)
Liebe Grüße
Sibylle Ficht (Donnerstag, 14 Mai 2020 04:30)
Liebe Simone,
wenn ich Ihren Text lese, kommen mir die Tränen. So brutal aus dem Alltag gerissen zu sein, ohne definitives Ende in Sicht ist hart. Dazu noch der nächste Staatsbankrott. Da möchte man mitunter rennnen, schreien und sich verausgaben und fühlt sich wie ein Tiger im Käfig.Ich wünsche allen auf der Welt dass dieser Zustand bald vorbei ist und hoffe sehr, die Argentinier lassen sich gemeinsames mateschlürfen, umarmen und küssen nicht abgewöhnen.
Freiheit ist nicht alles, aber ohne Freiheit ist alles nichts......
Viele liebe Grüße
Sibylle
Argentinien24/7 (Donnerstag, 14 Mai 2020 17:10)
Liebe Sibylle,
herzlichen Dank für Deine schönen Worte!
Ja das stimmt, Freiheit bekommt in dieser seltsamen Zeit einen ganz besonderen Stellenwert. Auch wenn momentan alles nicht ganz leicht ist, eines ist sicher: die Argentinier werden sich mit mehr Küsschen denn je begrüßen und der Mate wird irgendwann wieder die Runde drehen... :-) Bis dahin bleibt nichts anderes übrig als abwarten, die Hoffnung nicht verlieren und die Fantasie auf Reisen durch das Land schicken.
Liebe Grüße aus Buenos Aires
Simone